Autowelle aus Indien?

20. August 2024
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Aktuelles

Den Stellenwert Indiens im globalen Automobil-Gefüge beschreiben am besten einige Zahlen: 2022 produzierte das Land 5,46 Millionen Kraftfahrzeuge und ist damit nach China, den USA und Japan die Nummer vier im weltweiten Ranking – noch vor Südkorea und Deutschland. Rund 3,5 Millionen davon waren Pkw, der Rest Lkw und Motorräder, bei denen Indien ebenfalls eine Wirtschafts-Großmacht ist.

3,8 Millionen Neuwagen wurden dort im vergangen Jahr neu zugelassen, knapp 1,1 Millionen mehr als in Deutschland. Allerdings in einem Land, das mit etwa 1,44 Milliarden über 17-mal so viele Einwohner hat. Bei unseren Nachbarn beträgt der Zulassungsbestand 48,8 Millionen Pkw, in Indien 38,3 – das Markt-Potenzial gemessen an der Bevölkerungszahl lässt sich daraus wohl recht gut ablesen. Im vergangenen Jahr betrug der Neuwagen-Zuwachs des asiatischen Riesen über 23 Prozent, in ­China „nur“ rund 10 Prozent.

Die überwiegende Mehrheit der Autozulassungen in Indien stellen einheimische Marken, allen voran Maruti Suzuki, ein Joint Venture des Staates mit dem japanischen Hersteller, das allein auf gut 42 Prozent Marktanteil kommt. Mit 15 Prozent die Nummer zwei ist Hyundai India mit eigener Produktion in der 9 Millionen-Metropole Chennai, dahinter Tata und Mahindra.

In puncto Technik und Sicherheit galten indische Fahrzeuge ebenso wie chinesische lange als nicht konkurrenzfähig in Europa. Wie schnell diese Beurteilung angesichts der rasanten Entwicklungsfähigkeit in diesen Ländern zur Makulatur wird, sollten uns BYD, MG oder die diversen Geely-Ableger bereits gelehrt haben.

Indien hat einige Weichen zwar spät, aber dafür radikal gestellt: 2020 wurde die schritt­weise Anhebung der Abgasnormen auf europäisches Niveau beschlossen, heuer ist sie bereits vollständig umgesetzt, das gleiche gilt für die meisten Sicherheitsstandards.

Unterschiede gibt es lediglich noch beim vorgeschrieben Umfang an Assistenzsystemen, bei denen es sich jedoch ohnehin größtenteils um Zukauf-Equipment handelt. Flops wie der wegen des technischen Umrüst-Aufwands wieder abgesagte Europa-Launch des proklamierten Billig-Pkw Tata Nano vor 14 Jahren werden also nicht noch einmal passieren.

Die eingangs gestellte Frage, ob demnächst indische Marken nach Europa kommen, muss allerdings damit beantwortet werden, dass sie bereits da sind – oder zumindest waren. Jaguar-Land Rover etwa ist bereits seit 2008 das internationale Aushängeschild von Tata Motors. Die britischen Töchter profitieren unter anderem auch von der Aluminium-Sparte des Konzerns, der sie das Alleinstellungsmerkmal ihrer leichten Chassis zu verdanken haben.

Leichte Nutzfahrzeuge von Tata wurden auch bereits in ­Österreich verkauft, eine beständige Import-Organisation kam aber nicht zustande. In Ungarn, Griechenland und Malta hat Suzuki in den vergangenen Jahren immer wieder Baureihen aus der Maruti-Kooperation als Einstiegs-Modelle angeboten, bis die EU-Regularien das unterbanden.

Mahindra ist hierzulande am ehesten durch den Lizenz-Jeep CJ430 mit 64 PS-Diesel von Peugeot aus den 90er-Jahren in Erinnerung. In Süd­europa wurde bis vor wenigen Jahren etwa noch ein C-Segment SUV namens XUV500 angeboten.

Daraus abzuleiten, dass auch künftig kein organisierter Indien-Import stattfinden wird, wäre vermessen. Stellantis-Boss Carlos Tavares hat aufgrund des China-Fiaskos der europäischen Marken bereits Ende vergangenen Jahres Kooperationen und Produktionen in Indien in Aussicht gestellt – Stichworte Niedrig-Löhne, aber hoher Ausbildungsstandard. Projekte, die dem weiteren Anfeuern des Wirtschaftsbooms dienen, wird die indische Regierung sehr begrüßen – und sich mit dem Öffnen der Devisen-wichtigen Exportkanäle bezahlen lassen.

Nicht zuletzt dürfte auch der behördlich verordnete Elektro-Schwenk in der EU mit Argusaugen beobachtet werden – mit dem Nexon EV hat Tata seit vergangenem Jahr ein kompaktes Stromer-Modell im Programm, das im eigenen Land ab umgerechnet 16.400 Euro angeboten wird. In der Max-Ausführung ver­fügt der Viermeter-Kompakte über 145 PS und bietet 465 Kilo­meter Reichweite. Selbst, wenn es in der Praxis wie üblich ein Drittel weniger sein sollte, macht der Preisvorteil das wieder wett. Weitere Tata-Modelle, zum Teil mit Jaguar/Land Rover-Technik, sind bereits in der Pipeline.

Mahindra hat einige spannende SUV sowie Offroader im Programm, die hierzulande trotz ungnädiger NoVA-Einstufung wohl immer noch echte Preisschlager wären. Doch nicht nur: Das Unternehmen widmet sich auch verstärkt der sogenannten Last-Mile-Anwendung, also Fahrzeugen für die lokale Auslieferung von Waren – und hat dafür eine Elektro-Neuinterpretation der dreirädrigen Vespa Ape, aber auch herkömmliche Mini-Laster mit Elektroantrieb im Programm. Produkte, die in der EU dringend fehlen, wenn die Legende von der CO2-Neutralität denn Wirklichkeit werden soll.

Was uns eventuell noch einige Zeit vor der nächsten Import-Welle bewahrt, ist bestenfalls das, was auch China lange außen vor gehalten hat – ­also weniger technische, legale oder zolltechnische Hindernisse, als das immense Wachstum des eigenen Marktes, der zuerst bedient wird.

Noch ist Indien stark untermotorisiert, und die Versorgung der eigenen Bevölkerung hat für die Volkswirtschaft Vorrang – weil ausreichende Individualmobilität ein unabdingbarer Faktor für Wirtschaft und Arbeitsmarkt darstellt, so sehr dieser Umstand derweil hier am Kontinent ideologiebedingt auch geleugnet wird. Sobald in Indien ein ausreichender Produktions-Überschuss greifbar ist, wird Europa aber zweifellos in den Fokus rücken.

Fotos: Werk